WIR-Bewusstsein: Vom kleinen „du“ zum großen „WIR“

Der diesjährige Kongress der Heiligenfeld-Akademie hat sich einem beim ersten Hinschauen wohlmöglich „sperrigem“ Thema gewidmet – dem WIR. Wer genauer hinschaut, wird die Wichtigkeit und Brisanz des Themas erkennen. Die Gesellschaft ist geprägt von Einzelkämpfertum: Es gibt sie immer noch, die Ellenbogengesellschaft. Das „Ich“ zählt in vielen Fällen übermäßig viel und danach wird es still und es kommt eine ganze Weile erstmal gar nichts. Sehr ausgeprägt kann man diese innere Haltung immer wieder im Straßenverkehr erleben. Und es spielt gar keine Rolle, welcher Verkehrsteilnehmer betrachtet wird. Nicht nur der vermeintlich Betuchte im SUV oder Sportwagen lebt seinen Egoismus gern auf der Straße aus, sondern auch der Fahrradfahrer oder sogar der Verkehrsteilnehmer im Rollstuhl. Gern wird vergessen, dass das Gegenüber auch ein Mensch ist, ein lebendiges Wesen, das atmet, einen Herzschlag hat, Wünsche und Bedürfnisse in sich trägt – und immer einen Grund hat für die Art seines Handelns. Gern wird also das Gegenüber zu einer Sache, zu einem „Es“. Das so wünschenswerte „Du“ wird nicht mehr gesehen. Dass diese extreme ich-orientierte Haltung in vielen Fällen des Miteinanders im Beruflichen wie Privaten langfristig wenig erfolgreich ist, ist ein Erkenntnisprozess, der sich derzeit in der Gesellschaft auf allen Ebenen vollzieht. Und so war der Kongress auch von einem Austausch aus unterschiedlichsten Richtungen geprägt: Da waren die Mediziner (Prof. Dr. Höll, Prof. Dr. Loew u.a.), die erklärten, wie das WIR-Gefühl in uns hormonell entsteht, da war der mitreißende Extremsportler (Joachim Franz), der sich zusammen mit seinem jeweiligen Team für die Bekämpfung von AIDS durch spektakuläre Aktionen einsetzt, da waren die klugen Worte der herzlich-authetischen Therapeutin (Bärbel Wardetzki), die als Expertin in Sachen Narzissmus gilt, und da war der Coach (Torsten Schrör), der wie ich selbst auf dem beruflichen Weg die Fronten gewechselt hat und Tipps zum achtsamen Führen in der Wirtschaft gegeben hat – sowie viele, viele mehr. Achtsamer und wertschätzender Umgang miteinander, narzisstisch geprägtes Verhalten erkennen und auf gesunde Weise reagieren – sei es, weil man selbst der Narzisst ist, der unter seiner Angst vor Zurückweisung leidet, oder weil man unter dem Tun eines Narzissten leidet, von dem man sich gefühlt nicht lösen kann – das sind die Herausforderungen, denen sich die Gesellschaft stellen muss. Die Aufmerksamkeit der Fachwelt geht in diesen Tagen deutlich in Richtung der narzisstischen Verhaltensweisen. Es wird immer offensichtlicher, dass unsere Gesellschaftsform, ja unser Miteinander, den Narzissmus in seinen unterschiedlichsten Spielarten unterstützt bzw. sein Entstehen wohlmöglich sogar fördert. Die Abstufungen sind hierbei vielfältig. Es geht mitnichten immer nur um die Persönlichkeitsstörung des Narzissmus in seiner pathologischen Reinform – nein, es geht eben auch um narzisstische Charakterzüge, die nicht krankhaft sind und dennoch einem das Leben zuweilen schwer machen können. Der Lösungsweg ist – wie so oft – individuell. Erster, entscheidender Schritt: Erkennen! Und hier ist wirklich jeder einzelne gefragt – als Betroffener, der unter den Reaktionen seines Umfeldes aufgrund seines Verhaltens leidet, oder als Teil des Umfeldes, dass unter dem Narzissten leidet.