Trennende und kategorisierende Eigenschaften prägten und prägen dieses Wertesystem. Beurteilen, Zuordnen, Analysieren und Strukturieren sind gefragte Fähigkeiten in dieser Welt. Liebe passt da so gar nicht hinein. Sie gehört für uns gefühlt ins Private, ins Intime, sie kann nicht strukturiert oder in Form gegossen werden, geschweige denn analytisch erörtert werden. Doch dies soll nicht Thema dieses Artikels sein! Mein Erstaunen hatte andere Gründe.
Liebe bedeutet: Ehrlichkeit leben
Was mich in Erstaunen versetzt hat, ist das Folgende: Da sind in Vorträgen und Workshops immer wieder und mit unterschiedlicher Färbung und Ausgestaltung Schlagworte wie „Achtsamkeit!“, Nächstenliebe!“, „Respekt!“, „Wertschätzung!“ propagiert worden, was beim Publikum zustimmendes Nicken hervorrief. Mich erinnerte das teilweise sogar an Synchronschwimmen – so gleichmäßig rhythmisch schwang sich die Welle des Nickend durch die Säle. Doch sobald der Vortrag beendet war, hat sich das Blatt gewendet und ganz im Sinne von „the struggle is real“ wurde geschubst, gedrängelt, umgerannt, was das Zeug hielt bzw. die Hacken respektive Ellenbogen hergaben. Jeder hatte das Bedürfnis überall der Erste sein – und wenn es nur das Erreichen der Toilette war. Achtsamkeit ist so hip. Doch wie echt ist dieser ganze Hype bei den zahlreichen Coaches, Lehrern, Gurus und ihrer Gefolgschaft wirklich? Wie ehrlich ist das Verhalten all dieser dem elitären Kreis der Kongressteilnehmer Zugehörigen, wenn die allgemeine Zustimmung und das synchrone Nicken mit dem Ende des Vortrags aufhört?
Liebe bedeutet: Grenzen erkennen
Natürlich gilt: Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Ich will keinesfalls den moralingesäuerten Zeigefinger heben. Idealerweise hinterfragt jeder sich selbst. Ich nehme mich da nicht raus. Wie echt und authentisch bin ich selbst in dem, was ich tue und vermittle? Auf dem Kongress habe ich – erneut – bemerkt, wie fein die Grenzen wirklich sind und wie grenzüberschreitend vermeintlich achtsame Menschen sein können. Doch was tun? Kann es überhaupt eine Lösung geben? Denn wenn selbst den so willentlich bewussten und achtsamen Menschen immer wieder der Ausbruch aus der Wertschätzung und dem Respekt passiert, wie soll es dann die allgemeine Menschheit hinbekommen? Vielleicht ist es doch einfacher als vermutet. Vielleicht stellen wir uns selbst zu oft ein gedankliches Bein und machen es uns komplizierter, als es ist. Vielleicht gilt es, sich immer wieder an sein ureigenes Menschsein zu erinnern und zu bedenken:
Meine Grenzen…
… müssen niemals deckungsgleich mit den Grenzen meines Gegenübers sein. Vielmehr könnte es ja sogar so sein, dass die Grenzen meines Gegenübers viel früher beginnen als vermutet. Möglicherweise ist ja ein spezielles Rezept hilfreich: Behutsamkeit mit Mut mixen! Behutsame Vorsicht walten lassen und zugleich verantwortungsvollen Mut haben: immer wieder Mut haben, an Grenzen zu gehen, sie zu erforschen – und zugleich klar signalisieren, was in welchem Umfang für mich im jeweiligen Moment wirklich-wirklich in Ordnung ist bzw. eben nicht mehr. Letzteres sollte im vollen Bewusstsein darüber geschehen, dass alles einem stetigen Wandel unterliegt, also auch meine ureigenen Grenzen leben und sich verändern, sofern ich mich denn darauf einlassen will. In dieser Art des Miteinanders sind immer beide Seiten gefragt und verantwortlich. Ständig. Immer wieder. Das gilt im besonderen Maße bei Konstellationen, in denen die involvierten Menschen meinen sich schon länger bis lange zu kennen. Wirklich kennen tun wir uns nie. Wir können uns nur immer wieder einander annähern. Das gilt nach meinem Verständnis übrigens für jede Art des Miteinanders.
Liebe bedeutet: Zum Ursprünglichen zurück
Und gerade dieses oben erwähnte Einlassen ist etwas Essentielles in unserem Dasein. Kann ich mich grundlegend einlassen auf das Miteinander? Kann ich mich auf ein wohlwollendes Miteinander einlassen und den „Kampf“ beenden, um dadurch mehr im Sein, ja im Da-Sein anzukommen? Pater Anselm Grün betonte in seinem Eröffnungsvortrag herrlich erfrischend: Nichts muss irgendetwas bringen – weder sein Vortrag noch etwas anderes. Das hat ganz viel mit einlassen zu tun – sich auf das Leben als solches einlassen, sich selbst abgeben und vertrauen. Ohne Analyse, ohne Win-Win, ohne Fakten-Check. Findet die Menschheit den Weg raus aus der patriarchalisch-mechanistischen Denkweise, um wieder im Ursprünglichen anzukommen? Dann haben wir die Chance, uns dem Kern des Themas als Menschheit anzunähern.
[1] Dr. Christina Kessler: 33 Herzensqualitäten. Die Intelligenz der Liebe, 3. Auflage 2016