In diesem Beitrag will ich dir erklären, was es heutzutage bedeuten kann, achtsam zu sein.
Achtsam sein… Manch einer zuckt ehrfürchtig zusammen – und andere fangen an mit den Augen zu rollen. Es gibt Menschen, die versuchen sich mit der Tatsache, dass sie sich im achtsam sein üben abzugrenzen oder sogar herauszuheben.
Ein elitärer Kreis mit Zugangskontrolle im Sinne eines „Hast du heute schon meditiert?“
Und andere sind genervt, denn Achtsamkeit ist in und kaum einer kann dem Thema medial noch entkommen. In nahezu jeder Zeitung, in jedem Magazin wird das Thema erläutert, analysiert, als Wunderwaffe gegen den Beschleunigungswahn gepriesen.
Und schließlich gibt es die, die Achtsamkeit einfach still für sich praktizieren, die sich auch nicht großartig in den sozialen Medien damit produzieren und präsentieren, wie es mittlerweile zum Trend geworden ist. Achtsam sein ist ein Trend. Jeder will irgendwie dazu gehören. „Achtsam – das muss man halt jetzt sein.“
Und so kommen viele in die Vorträge und Schnupperseminare. Das ist grundsätzlich auch vollkommen in Ordnung und richtig so! Denn nur wenn ich etwas ausprobiere, habe ich die Chance zu erfahren, was dies mit mir macht (oder auch nicht macht).
Über den Verstand achtsam sein?
Jedoch habe ich immer wieder den Eindruck, dass nicht wenige denken, man könne Achtsamkeit lernen wie eine Sprache. Ja, Wiederholung und regelmäßiges Üben gehören dazu. Doch kognitiv erfassen kann man Achtsamkeit nur in begrenztem Umfang. Immer wieder beobachte ich, dass vor Beginn einer meiner interaktiven Vorträge oder Workshops hektisch Papier und Stift zurecht gelegt werden. Bloß nichts vergessen! Alles für den Verstand festhalten.
So sind wir in der Schule konditioniert worden. Dabei sollte es doch um etwas ganz anderes gehen – nämlich das Spüren: Was macht Achtsamkeit mit mir? Wie wirken die Übungen auf mich? Was nehme ich an mir wahr? Und nicht alle mögen auf meinen Hinweis „Es gibt ein Handout im Nachgang.“ die Schreibutensilien weit weg legen. Sicher ist sicher…
Oberfläche…
Auch wenn man alles gut mitschreibt, auch wenn man sich alles immer wieder durchliest, ja auswendig lernt und auch wenn man die Übungen in die To Do Liste aufnimmt und abarbeitet, fehlt das Entscheidende. Denn: Auf die innere Haltung kommt es an! Ich kann Achtsamkeit nicht vom Kopf her vollumfänglich erfassen. Ja, ich kann rein kognitiv das Thema erarbeiten, doch dringt es dann nicht in die alles entscheidende Tiefe in mir. Es bleibt an der Oberfläche. Klar, ich gern betone, dass man auch eine Sprache nicht erlernt, wenn man nur 1mal in der Woche Vokabeln paukt – und deshalb ist ebenso in Sachen Achtsamkeit Regelmäßigkeit in der Wiederholung gefragt, wenn möglich täglich.
… oder Tiefgang?
Doch dieses Üben erlebe ich idealerweise aus einer bestimmten, veränderten Grundhaltung heraus: „Sanft und wohlwollend mir selbst gegenüber“ ist ein erstklassiges Fundament. Diese Haltung braucht Zeit sich zu entwickeln und dieser Prozess ist nicht kognitiv greifbar. Niemand erfasst die Grundhaltung im Besonderen (oder die Achtsamkeit im Allgemeinen) mittels eines kognitiven oder analytischen Prozesses. Meine Grundhaltung zeigt, wie ich mit mir und meiner Welt umgehe, welche Überzeugungen mitschwingen, ja mich evtl. blockieren. Hier liegt ein sehr entscheidender Schlüssel. Ich mag in diesem Zusammenhang den Begriff „unvoreingenommen“ sehr. Mein Tipp: Übe unvoreingenommen zu sein – dir selbst und der Umwelt gegenüber.
Achtsam sein bedeutet „Prozessorientierung“
Und apropos „Grundhaltung“: Ich kann es gar nicht genug betonen, dass wir die Zielorientierung in Bezug auf Achtsamkeit verlassen müssen. Achtsamkeit hat nichts damit zu tun, irgendetwas zu erreichen. Ich vergleiche die Übungen gern mit dem Tanzen, dem Singen, dem Spielen etc. Wer tanzt, singt, spielt, der will auch nicht irgendein Ziel erreichen, sondern Der Prozess dessen, was da gerade geschieht, ist quasi das Ziel.
Ein Beispiel gefällig?
Ein Beispiel dazu: Ich habe vor Jahren einmal eine Weile mit einer Führungskraft aus einem großen, international tätigen Unternehmen in Hamburg gearbeitet. Die Personalabteilung machte sich große Sorgen um diesen Mann, der vorsorglich beurlaubt worden war, weil er so erschöpft war. Man legte ihm nahe, in der Zeit dieses Sonderurlaubs keine dienstlichen Mails abzurufen (es ist dort durchaus Usus, Dienstmails nach Feierabend, am Wochenende oder im Urlaub abzurufen). Er hielt sich aber nicht daran, wie er mir erzählte. Vieles deutete bereits beim ersten Kennenlernen darauf hin, dass er äußert leistungsorientiert und wenig bis gar nicht mehr in der Lage war, sich selbst gut wahrzunehmen.
Also fingen wir mit leichten Achtsamkeitsthemen an und es gab eine Hausaufgabe für ihn: eine sanfte, achtsame Bewegungsübung aus der progressiven Muskelentspannung entlehnt. Als er nach 14 Tagen zum nächsten Termin kam, führte er mir stolz vor, wie effizient er geübt hatte. Täglich sogar! Das sah dann folgendermaßen aus: mit dem einen Arm/ der einen Hand machte er die besprochene Übung und mit der jeweils freien Hand rief er zeitgleich Mails ab und las sie. Wenn ich effizienz- und zielorientiert bin, dann ist das ein ideales Vorgehen. Nur – wie weiter oben schon beschrieben – ist jegliche Ziel- und Leistungsorientierung bei Achtsamkeit fehl am Platz.
Wie die Gesellschaft/ unsere Kultur uns ein Bein stellt
Während tatsächlich einige Gefühlslagen romantisiert werden, sollen andere, so schnell es geht, abgeschaltet werden. Worauf will ich hinaus? Werfen wir zuerst einen Blick auf die romantisierten Gefühle: Ich beobachte, dass persönlicher Kontrollverlust „in“ ist. Es ist in, sich über die Maße mitreißen zu lassen von Gefühlen wie Leidenschaft, Begierde und auch Wut. Wir leben in einer Zeit, die immer stärker polarisiert. Professor Dr. Pörksen ist Medienwissenschaftler und bezeichnet unsere Gesellschaft nicht umsonst als Skandalgesellschaft. Während vor einigen Jahren viele noch Begriffe wie Populismus und Narzissmus nachschlagen mussten, sind dies heute gängige Schlagworte, mit denen nahezu jeder etwas anfangen kann. Es geht heute dazu sich von Situationen mitreißen zu lassen – auch wenn dies wenig hilfreich ist, wenn man mit Abstand die Sachlage betrachtet.
Wenn Trauer schnell weggehen soll
Darüber hinaus ist da dieses Gefühlspotpourri aus Schmerz, Leiden und Trauer, welches so schnell wie möglich verschwinden soll. Diese Gefühle mag keiner und trotzdem ist es sinnvoll, sie in dem Moment, wo sie sich zeigen, auch zuzulassen. Das, was Leid verursacht, sollte unbedingt im zum Kontext passenden und individuellen Umfang angesehen und nicht vermieden werden. Die Tatsache, dass im DSM 5 – dem Diagnostikhandbuch für psychische Störungen, das in regelmäßigen Abständen aktualisiert wird – die gesunde Trauerphase in der jüngsten Ausgabe auf 14 Tage gekürzt wurde und danach bereits eine depressive Episode diagnostiziert wird, spricht Bände.
Man stelle sich vor: Da stirbt der Partner, das eigene Kind oder andere nahe Angehörige und nach 2 Wochen hat man wieder vollkommen stabil im Leben zu stehen. Ich will an dieser Stelle weder den einen Umstand – die Romantisierung – noch den anderen – die Vermeidung – vertiefen. Wichtig ist mir, dass uns Individuen klar wird, wie sehr unsere Gesellschaft und unsere Kultur unser Wahrnehmen und Handeln beeinflusst. Achtsamkeit zu leben und achtsam zu sein bedeutet auch, dies bewusst zu erkennen – ggfs. mit den entsprechenden Konsequenzen für das eigene Dasein.
Vom Machen zum Sein
Ich denke, hilfreich kann es sein, immer wieder das simple Zurücklehnen zu üben. Raus aus dem Machen, Machen, Machen kommen und eben auch nicht Achtsamkeit „machen“, sondern schlichtweg einfach sein. In einem Vortrag vor einiger Zeit donnerte der sonst so gütig wirkende Pater Anselm Grün einmal (Achtung, explizite Wortwahl!):
„Einen Scheiß muss dieser Vortrag, einen Scheiß muss der Kongress!“ Er spielte wachrüttelnd polemisch genau darauf an: Wir müssen nicht permanent aus allem einen Benefit ziehen. Es muss nicht immer effizient sein, es muss sich nicht immer „lohnen“. Einfach sein bringt mich auf den Weg zur Achtsamkeit.
Fazit
Raus aus dem Kopf, rein in die Praxis! Ich kann dir wirklich nur ans Herz legen, täglich ins Tun zu kommen und einfach achtsam zu sein.
Mehr zum Thema Achtsamkeit hier in meinem Special.