Wenn Liebe zur Abhängigkeit wird
Du fühlst dich ohne Partner unvollständig. Ein Tag ohne Nachricht von ihm löst Panik aus. Du gibst alles für die Beziehung auf – und bleibst, selbst wenn sie dir schadet. Falls dir diese Gedanken bekannt vorkommen, könnte Liebessucht ein Thema sein, das dich betrifft.
In diesem Artikel tauchen wir tief in das Phänomen der Liebes- bzw. Beziehungssucht ein – speziell bei Frauen. Wir schauen uns an, woher sie kommt, wie du sie erkennst und vor allem: wie du einen Weg herausfinden kannst. Denn eines steht fest: Du verdienst eine gesunde, erfüllende Liebe, die dich stärkt, statt dich zu schwächen.
Spoiler Alert: Es geht unter anderem um deinen Selbstwert!
Was ist Liebessucht eigentlich?
Liebessucht, Beziehungssucht – auch als Beziehungsabhängigkeit oder Love Addiction bezeichnet – ist ein Muster, bei dem Betroffene ein zwanghaftes Bedürfnis nach romantischen Beziehungen entwickeln. Anders als bei gesunder Liebe steht nicht die Verbindung zu einem anderen Menschen im Mittelpunkt, sondern das verzweifelte Verlangen nach einem Zustand des „Zusammenseins“.
Bei Beziehungssucht geht es nicht wirklich um die andere Person, sondern um die emotionale Regulierung, die durch die Beziehung stattfindet. Ähnlich wie bei stoffgebundenen Süchten entsteht ein Suchtkreislauf:
- Du erlebst innere Leere, Einsamkeit oder Angst
- Du suchst nach einer Beziehung als „Lösung“
- Die neue Beziehung gibt dir einen Rausch an Glücksgefühlen
- Mit der Zeit lässt dieser Effekt nach
- Du fühlst wieder Leere oder klämmerst dich verzweifelt an die Beziehung
- Bei Beziehungsende folgen Entzugserscheinungen und der Kreislauf beginnt von vorne
Liebessüchtige Frauen
…sind oft besonders anfällig für toxische oder missbräuchliche Beziehungen, weil die Angst vor dem Alleinsein größer ist als der Selbstschutz. Sie definieren ihren Selbstwert über ihren Beziehungsstatus und erleben oft eine tiefsitzende Überzeugung, ohne Partner nicht vollständig oder liebenswert zu sein.
Janinas Geschichte: Ein Fallbeispiel
Janina, 27, realisierte erst nach ihrer dritten gescheiterten Beziehung, dass sie in einem Muster gefangen war. Von außen betrachtet hätte sie alles haben können: einen guten Job als Grafikdesignerin, einen liebevollen Freundeskreis und kreative Talente. Doch für Janina zählte all das wenig, wenn sie keinen Partner hatte.
„Es war, als würde ein Teil von mir absterben, wenn ich single war. Ich konnte keine Freude mehr empfinden. Alles drehte sich nur um die Frage: Wie finde ich schnell jemand Neuen?“
Nach einer schmerzhaften Trennung von ihrem langjährigen Freund Marc verbrachte Janina keine zwei Wochen ohne Partner. Sie stürzte sich in eine Beziehung mit Thomas, obwohl sie früh Warnsignale erkannte: seine Eifersucht, kontrollierende Art und emotionalen Ausbrüche. Trotzdem blieb sie bei ihm.
„Bloß nicht alleine sein“
„Ich wusste, dass die Beziehung nicht gut für mich war. Aber der Gedanke, wieder allein zu sein, hat mich in Panik versetzt. Ich habe meine Freundinnen vernachlässigt, meine Hobbys aufgegeben und mich komplett auf ihn fokussiert.“
Janina ignorierte die Ratschläge ihrer Freundinnen und Familie. Sie passte sich immer mehr an, versuchte, „perfekt“ für ihn zu sein. Als Thomas sie nach einem Jahr verließ, brach ihre Welt zusammen.
„Ich konnte nicht essen, nicht schlafen. Ich habe ihn ständig angerufen, ihm Nachrichten geschickt. Wie eine Süchtige auf Entzug. In diesem Moment wurde mir klar: Das ist nicht normal. Das ist Sucht.“
Raus aus dem Teufelskreis
Mit Hilfe einer Therapeutin begann Janina zu verstehen, dass ihre Beziehungssucht mit ihrer Kindheit zusammenhing. Als Tochter eines emotional abwesenden Vaters und einer überforderten Mutter hatte sie früh gelernt: Liebe muss man sich verdienen, indem man sich anpasst und eigene Bedürfnisse zurückstellt.
Janinas Entwicklungsprozess war lang und herausfordernd. Doch nach zwei Jahren intensiver Arbeit an sich selbst konnte sie erstmals sagen:
„Ich bin jetzt seit einem Jahr Single – und es ist okay. Manchmal ist es einsam, aber ich kenne jetzt den Unterschied zwischen Einsamkeit und dem verzweifelten Suchtverlangen. Ich lerne jeden Tag, mich selbst zu lieben und wertzuschätzen.“
Die Wurzeln verstehen: Ursachen von Beziehungssucht
Beziehungssucht entsteht nicht über Nacht. Sie entwickelt sich meist über Jahre und hat tiefe psychologische Wurzeln. Bei Frauen spielen oft folgende Faktoren eine Rolle:
1. Frühkindliche Bindungserfahrungen
Unsichere Bindungsmuster aus der Kindheit können den Grundstein für spätere Beziehungssucht legen. Wenn deine Eltern oder Bezugspersonen…
- emotional unbeständig oder unzuverlässig waren,
- ihre Liebe an Bedingungen knüpften,
- dich vernachlässigten oder überforderten,
- selbst in toxischen Beziehungen lebten,
…kann dies dazu führen, dass du Liebe mit Unsicherheit, Angst und dem Gefühl, „nicht genug zu sein“, verbindest. Als Erwachsene suchst du dann unbewusst nach Beziehungen, die diese vertrauten Muster widerspiegeln – selbst wenn sie schmerzhaft sind.
2. Gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse
Obwohl wir im 21. Jahrhundert leben, wirst du als Frau immer noch von klein auf mit Botschaften konfrontiert, die suggerieren, dass dein Wert eng mit deinem Beziehungsstatus verknüpft ist:
- Märchen, die mit „und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage“ enden
- Filme, in denen weibliches Glück fast immer mit dem „Finden des Einen“ gleichgesetzt wird
- Magazine mit Tipps, wie du „ihn“ halten kannst
- Familiärer Druck bezüglich Partnerschaft und Familiengründung
Diese ständige Konditionierung kann dazu führen, dass du unbewusst glaubst, erst in einer Beziehung vollständig oder erfolgreich zu sein.
3. Traumatische Erfahrungen
Traumatische Erlebnisse, besonders in Verbindung mit Beziehungen, können Beziehungssucht verstärken:
- Verlusterlebnisse in der Kindheit oder Jugend
- Sexueller Missbrauch oder körperliche Gewalt
- Emotionaler Missbrauch
- Plötzliche oder schmerzhafte Trennungen
Trauma kann dazu führen, dass du durch Beziehungen versuchst, Kontrolle zurückzugewinnen oder die „Heilung“ zu finden, die du dir wünschst.
4. Niedriges Selbstwertgefühl
Ein zentraler Faktor bei Liebes- bzw. Beziehungssucht ist oft ein mangelndes Selbstwertgefühl. Wenn du dich selbst nicht als wertvoll und liebenswert ansiehst, suchst du nach äußerer Bestätigung – und eine Beziehung scheint der ultimative „Beweis“ zu sein, dass du es wert bist, geliebt zu werden.
5. Neurologische Aspekte
Die Biochemie spielt ebenfalls eine Rolle. Verliebtsein setzt Hormone und Neurotransmitter frei, die ähnlich wirken wie Drogen:
- Dopamin erzeugt Euphorie und Verlangen
- Oxytocin fördert Bindung und Vertrauen
- Serotonin beeinflusst die Stimmung positiv
Bei Beziehungssucht kann eine Art „Sucht“ nach diesen biochemischen Prozessen entstehen. Das Gehirn gewöhnt sich an den „Liebesrausch“ und verlangt nach immer mehr.
6. Vermeidung innerer Auseinandersetzung
Manche Frauen nutzen Beziehungen unbewusst, um sich nicht mit eigenen Ängsten, Unsicherheiten oder unverarbeiteten Themen auseinandersetzen zu müssen. Die intensive Beschäftigung mit dem Partner dient als Ablenkung von der Selbstreflexion.
Erkenne dich selbst: Symptome und Anzeichen
Wie erkennst du, ob du von Beziehungssucht betroffen bist? Hier sind typische Anzeichen, die auf Beziehungssucht hindeuten können:
Emotionale Anzeichen
Du…
- fühlst dich leer, ängstlich oder depressiv, wenn du nicht in einer Beziehung bist.
- definierst deinen Selbstwert primär über deinen Beziehungsstatus.
- hast panische Angst vor Zurückweisung oder Verlassenwerden.
- erlebst extreme Hochs und Tiefs in Beziehungen.
- fantasierst ständig über die „perfekte Beziehung“.
- idealisierst deinen Partner zu Beginn einer Beziehung extrem.
- empfindest körperliche „Entzugserscheinungen“ bei Trennungen (Schlafstörungen, Appetitlosigkeit, körperliche Schmerzen).
Verhaltensmuster
Du…
- gehst von einer Beziehung direkt in die nächste, ohne Pausen dazwischen.
- bleibst in schädlichen oder missbräuchlichen Beziehungen.
- vernachlässigst Freundschaften, Hobbys oder berufliche Ziele für Beziehungen.
- überschreitest eigene Grenzen, um den Partner zu halten.
- kontrollierst exzessiv die Kommunikation (ständiges Nachrichtenschreiben, Überprüfen des Online-Status).
- passt deine Meinungen, Interessen und sogar Werte an den Partner an.
- tolerierst Verhaltensweisen, die du früher nicht akzeptiert hättest.
- fühlst dich verantwortlich für die Gefühle und das Glück deines Partners.
Denkmuster
- „Ohne Partner bin ich nichts wert“
- „Liebe sollte alles überwinden können“
- „Wenn ich mich nur genug anstrenge, wird er sich ändern“
- „Ich kann nicht allein sein“
- „Diese Beziehung ist meine letzte Chance auf Glück“
- „Wenn die Beziehung scheitert, bin ich gescheitert“
- „Ich muss perfekt sein, damit er mich liebt“
Selbsttest: Bin ich beziehungssüchtig?
Beantworte folgende Fragen ehrlich für dich selbst:
- Hast du jemals wichtige Freundschaften oder Familienbeziehungen für einen Partner aufgegeben?
- Fühlst du dich oft wie „auf Drogen“, wenn du frisch verliebt bist?
- Hast du schon einmal obsessive Gedanken über einen Partner entwickelt?
- Fühlst du dich ohne Beziehung unvollständig oder wertlos?
- Hast du Angst davor, dass dein Partner dich verlassen könnte, selbst wenn es keine Anzeichen dafür gibt?
- Bleibst du in ungesunden Beziehungen, weil du Angst vor dem Alleinsein hast?
- Hast du Schwierigkeiten, klare Grenzen zu setzen und durchzusetzen?
- Hast du das Gefühl, deine Identität in Beziehungen zu verlieren?
- Priorisierst du die Bedürfnisse deines Partners regelmäßig über deine eigenen?
- Fühlst du dich verantwortlich für das Glück und die Gefühle deines Partners?
Je mehr Fragen du mit „Ja“ beantwortest, desto wahrscheinlicher ist es, dass Aspekte von Beziehungssucht in deinem Leben eine Rolle spielen.
Das Spektrum der Beziehungssucht
Wichtig zu verstehen ist: Beziehungssucht existiert auf einem Spektrum. Nicht jedes Anzeichen bedeutet gleich, dass du „süchtig“ bist. Manche Verhaltensweisen können in bestimmten Lebensphasen oder nach traumatischen Erlebnissen vorübergehend auftreten.
Es geht nicht darum, dich zu pathologisieren, sondern darum, Muster zu erkennen, die deinem Wohlbefinden schaden könnten. Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Veränderung.
Bewältigungsstrategien
Der Weg aus der Beziehungssucht ist herausfordernd, aber absolut möglich. Hier sind effektive Strategien, die dir helfen können:
1. Bewusste Selbstreflexion entwickeln
Der erste Schritt zur Heilung ist das Erkennen und Akzeptieren deiner Muster:
- Führe ein Tagebuch über deine Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen in Beziehungen
- Identifiziere deine Trigger: Was löst besonders starke Anhänglichkeit oder Angst in dir aus?
- Beobachte deine inneren Dialoge: Welche Glaubenssätze tauchen immer wieder auf?
- Reflektiere frühere Beziehungen: Erkennst du wiederkehrende Muster?
Die Selbstreflexion hilft dir, Distanz zu gewinnen und deine Muster nicht mehr als „die Wahrheit“, sondern als erlernte Reaktionen zu sehen, die du verändern kannst.
2. Selbstwert unabhängig von Beziehungen aufbauen
Eine der wichtigsten Aufgaben ist es, deinen Selbstwert von deinem Beziehungsstatus zu entkoppeln:
- Erstelle eine Liste deiner Stärken, Fähigkeiten und positiven Eigenschaften
- Setze dir persönliche Ziele, die nichts mit Partnerschaft zu tun haben
- Feiere deine Erfolge, auch die kleinen
- Umgib dich mit Menschen, die dich für deine authentische Persönlichkeit schätzen
- Praktiziere positive Selbstgespräche und Affirmationen, die deine Eigenständigkeit betonen
Je mehr du dich selbst wertschätzt, desto weniger wirst du die Bestätigung durch einen Partner brauchen.
3. Gesunde Grenzen entwickeln
Beziehungssüchtige Frauen haben oft Schwierigkeiten, gesunde Grenzen zu setzen. Das zu lernen ist entscheidend:
- Identifiziere deine eigenen Bedürfnisse und Werte
- Übe, „Nein“ zu sagen, wenn etwas nicht mit deinen Grenzen vereinbar ist
- Erkenne den Unterschied zwischen Kompromissen und Selbstaufgabe
- Kommuniziere deine Grenzen klar und ohne Schuldgefühle
- Bleibe standhaft, auch wenn du Angst hast, verlassen zu werden
Das Setzen von Grenzen mag anfangs unangenehm sein, doch mit der Zeit wird es dein Selbstvertrauen stärken und zu gesünderen Beziehungen führen.
4. Emotionale Unabhängigkeit lernen
Eine zentrale Herausforderung bei Beziehungssucht ist es, emotional unabhängiger zu werden:
- Entwickle Strategien zur Selbstberuhigung bei Angst oder Unsicherheit
- Lerne, unangenehme Gefühle auszuhalten, statt sie durch Beziehungen zu „betäuben“
- Übe, Zeit allein zu verbringen und diese als wertvoll zu erkennen
- Baue ein Unterstützungsnetzwerk aus Freunden und Familie auf
- Entdecke Aktivitäten, die dir Freude bereiten – unabhängig von einem Partner
Die Fähigkeit, deine Emotionen selbst zu regulieren, reduziert die Abhängigkeit von anderen für dein emotionales Wohlbefinden.
5. Beziehungspause einlegen
Für viele Frauen mit Beziehungssucht kann eine bewusste „Beziehungspause“ heilsam sein:
- Lege eine konkrete Zeit fest (z.B. sechs Monate bis ein Jahr), in der du bewusst keine romantischen Beziehungen eingehst
- Nutze diese Zeit für Selbstentdeckung und persönliches Wachstum
- Fokussiere dich auf Freundschaften und nichtsexuelle Beziehungen
- Erforsche, wer du ohne Partner bist und was du wirklich vom Leben willst
Diese Zeit kann anfangs sehr herausfordernd sein, bietet aber die Chance, alte Muster zu durchbrechen und ein neues Selbstverständnis zu entwickeln.
6. Gesunde Coping-Strategien entwickeln
Entwickle gesunde Alternativen, um mit schwierigen Gefühlen umzugehen:
- Körperliche Aktivität zur Stressreduktion
- Achtsamkeits- und Meditationspraktiken
- Kreative Ausdrucksformen wie Kunst, Musik oder Schreiben
- Natürliche Endorphin-Booster wie Sport, Tanzen oder Lachen
- Verbindung mit der Natur
- Ehrenamtliches Engagement
Diese Aktivitäten können dir helfen, emotionale Regulation zu lernen, ohne auf Beziehungen zurückzugreifen.
7. Bewusstes Dating lernen
Wenn du bereit bist, wieder zu daten, tue dies bewusst und achtsam:
- Definiere vorab deine Bedürfnisse, Grenzen und Werte
- Achte auf frühe Warnsignale und nimm sie ernst
- Gib dir Zeit, jemanden kennenzulernen, statt in die „Sofort-Intimität“ zu stürzen
- Behalte deine eigenen Interessen und Freundschaften bei
- Überprüfe regelmäßig, ob du in alte Muster zurückfällst
- Kommuniziere offen und ehrlich über deine Bedürfnisse
Bewusstes Dating bedeutet, aus einer Position der Selbstkenntnis und Selbstliebe zu handeln, nicht aus Angst oder Bedürftigkeit.
Professionelle Hilfe: Therapiemöglichkeiten
Bei Beziehungssucht ist professionelle Unterstützung oft entscheidend für nachhaltige Veränderung. Hier nenne ich dir ein paar Ansätze, die hilfreich sein können:
- aufspüren ungesunder Glaubenssätze und verzerrter Gedanken über Beziehungen
- aufdecken früher Bindungserfahrungen
- Arbeit mit verschiedenen „Anteilen“ deiner Persönlichkeit
- Verarbeitung traumatischer Beziehungserfahrungen
Auch der Austausch mit anderen Betroffenen in einer Selbsthilfegruppe kann sehr heilsam sein!
Den richtigen Therapeuten finden
Bei der Suche nach therapeutischer Unterstützung ist es wichtig, jemanden zu finden, der Erfahrung mit Beziehungssucht hat. Scheue dich nicht, beim Erstgespräch danach zu fragen und zu prüfen, ob die Chemie stimmt.
Eine gute therapeutische Beziehung sollte:
- von Vertrauen und Respekt geprägt sein
- dir Raum geben, auch unbequeme Themen anzusprechen
- dich weder verurteilen noch übermäßig schonen
- deine Autonomie fördern, nicht neue Abhängigkeiten schaffen
Praktische Übungen für den Alltag
Neben professioneller Hilfe können diese praktischen Übungen dir helfen, im Alltag neue Muster zu entwickeln:
Achtsamkeits- und Selbstwahrnehmungsübungen
Gefühlsbarometer: Nimm dir dreimal täglich einen Moment Zeit und frage dich:
- Wie fühle ich mich gerade körperlich?
- Welche Emotionen nehme ich wahr?
- Welche Gedanken kreisen in meinem Kopf?
- Was brauche ich in diesem Moment wirklich?
Body-Scan: Führe regelmäßig einen Body-Scan durch, um den Kontakt zu deinem Körper zu stärken und frühe Anzeichen von Stress oder Angst zu erkennen.
Trigger-Tagebuch: Notiere Situationen, die intensive Abhängigkeitsgefühle oder Verlustängste auslösen. Was genau hat den Trigger ausgelöst? Wie hast du reagiert? Was hättest du dir gewünscht zu tun?
Selbstwert-stärkende Übungen
Tägliche Affirmationen: Formuliere Affirmationen, die deine Unabhängigkeit und deinen Selbstwert betonen:
- „Ich bin vollständig und wertvoll, genau wie ich bin“
- „Mein Wert ist unabhängig von meinem Beziehungsstatus“
- „Ich vertraue meiner Fähigkeit, für mich selbst zu sorgen“
Erfolgs-Journal: Schreibe täglich drei Dinge auf, die du gut gemacht hast oder auf die du stolz sein kannst – unabhängig von Beziehungen.
Selbstfürsorge-Ritual: Etabliere tägliche Selbstfürsorge-Rituale, die dir zeigen, dass du es wert bist, gut behandelt zu werden – von dir selbst.
Übungen zur Entwicklung gesunder Beziehungsmuster
Grenzen-Übung: Erstelle eine Liste mit:
- Grün: Was ist für mich in Beziehungen absolut in Ordnung?
- Gelb: Was macht mich unsicher oder unwohl?
- Rot: Was sind absolute No-Gos?
Überprüfe regelmäßig, ob du diese Grenzen einhältst oder überschreitest.
Bedürfnis-Inventar: Identifiziere deine wahren Bedürfnisse:
- Emotionale Bedürfnisse (Zugehörigkeit, Anerkennung, etc.)
- Physische Bedürfnisse (Berührung, Intimität, Raum)
- Intellektuelle Bedürfnisse (Gespräche, Herausforderungen)
- Spirituelle Bedürfnisse (Sinn, Verbundenheit)
Überlege, welche dieser Bedürfnisse du selbst erfüllen kannst und welche in Beziehungen erfüllt werden sollten.
Beziehungs-Bilanz: Betrachte deine aktuellen Beziehungen (romantisch und freundschaftlich):
- Was gibt dir diese Beziehung?
- Was kostet dich diese Beziehung?
- Ist die Beziehung ausgewogen oder einseitig?
- Unterstützt diese Beziehung dein Wachstum oder hindert sie dich?
Übungen für emotionale Unabhängigkeit
„Allein sein“-Übung: Plane bewusst Zeit allein ein, beginnend mit kurzen Zeiträumen, die du allmählich verlängerst. Beobachte deine Gefühle dabei ohne zu urteilen.
Emotionsregulations-Techniken:
- Atemübungen bei Angstzuständen (Bitte unter Anleitung erlernen!)
- Progressive Muskelentspannung bei körperlicher Anspannung
Selbstberuhigungs-Toolkit: Erstelle eine Liste mit Aktivitäten, die dir helfen, dich selbst zu beruhigen, wenn du dich ängstlich oder verlassen fühlst. Zum Beispiel:
- Eine bestimmte Playlist hören
- In die Natur gehen
- Mit einem vertrauten Freund sprechen
- Eine körperliche Aktivität ausüben
- Ein warmes Bad nehmen
- In ein Tagebuch schreiben
Übungen für gesundes Dating
Dating-Intention: Bevor du jemanden triffst, setze eine klare Intention:
- Was möchte ich von diesem Treffen?
- Wie möchte ich mich dabei fühlen?
- Welche Grenzen sind mir wichtig?
Realitäts-Check: Nach einem Date reflektiere:
- Sehe ich diese Person realistisch oder idealisiere ich sie?
- Fühle ich mich zu dieser Person hingezogen oder zu dem Gefühl, in einer Beziehung zu sein?
- Kann ich meine authentische Selbst bei dieser Person sein?
Tempo-Kontrolle: Verlangsame bewusst das Tempo neuer Beziehungen:
- Warte mit intimer körperlicher Nähe.
- Behalte deine eigenen Aktivitäten und Freundschaften bei.
- Lerne die Person in verschiedenen Kontexten kennen.
- Beobachte, wie sie mit Grenzen und „Nein“ umgeht.
Ein neues Selbstverständnis entwickeln
Der tiefste Wandel bei der Überwindung von Beziehungssucht liegt in der Entwicklung eines neuen Selbstverständnisses – einer neuen Art, dich selbst und deine Beziehungen zu sehen.
Von der Abhängigkeit zur Selbstbestimmung
Der Weg aus der Beziehungssucht führt über eine grundlegende Neuausrichtung deiner Selbstwahrnehmung:
- Von „Ich bin nur liebenswert, wenn…“ zu „Ich bin liebenswert, weil ich bin“
Eine der schmerzhaftesten Überzeugungen bei Beziehungssucht ist das Gefühl, nur durch die Bestätigung eines Partners wertvoll zu sein. Die Transformation beginnt, wenn du erkennst, dass dein Wert intrinsisch ist – er existiert unabhängig davon, ob dich jemand liebt oder nicht.
Diese Erkenntnis entsteht nicht über Nacht. Sie wächst mit jedem Mal, wenn du
- dir selbst mit Mitgefühl begegnest, statt mit Selbstkritik.
- deine Erfolge anerkennst, ohne sie zu schmälern.
- deine eigenen Bedürfnisse ernst nimmst und für sie einstehst.
- dich nicht mehr für deine Gefühle entschuldigst.
- Von „Liebe als Rettung“ zu „Liebe als Bereicherung“
In der Beziehungssucht wird Liebe oft als Rettung vor der eigenen Leere oder Unzulänglichkeit gesehen. Der Wandel geschieht, wenn du beginnst, Liebe als etwas zu sehen, das dein bereits vollständiges Leben bereichert – nicht als etwas, das dich erst vollständig macht.
Diese neue Perspektive zeigt sich, wenn du
- eine Beziehung eingehen kannst, ohne dich selbst zu verlieren.
- erlebst, dass du selbst für dein Glück verantwortlich bist.
- verstehst, dass wahre Liebe deine Freiheit erweitert, nicht einschränkt.
- erkennst, dass Alleinsein nicht dasselbe ist wie Einsamkeit.
- Von „Entweder-oder“ zu „Sowohl-als-auch“
Beziehungssucht ist oft geprägt von Schwarz-Weiß-Denken: Entweder perfekte Liebe oder komplette Verlassenheit. Der Weg zur Heilung führt zum Erkennen der Nuancen. Du kannst…
- unabhängig sein UND in Verbindung mit anderen.
- Liebe geben UND gesunde Grenzen setzen.
- verletzlich sein UND stark.
- dir Unterstützung holen UND für dich selbst sorgen.
- Von „Ich muss mich anpassen“ zu „Ich darf authentisch sein“
Viele beziehungssüchtige Frauen sind Meisterinnen der Anpassung – sie werden zum Chamäleon, das sich den Wünschen und Bedürfnissen des Partners anpasst. Die Transformation liegt im Mut zur Authentizität:
- Du darfst deine eigenen Meinungen, Wünsche und Bedürfnisse haben.
- Du musst nicht perfekt sein, um geliebt zu werden.
- Deine Ecken und Kanten machen dich interessant und einzigartig.
- Eine Beziehung, die nur funktioniert, wenn du dich verstellst, ist keine gesunde Beziehung.
- Von „Angst vor dem Alleinsein“ zu „Freundschaft mit dir selbst“
Die tiefste Angst bei Beziehungssucht ist oft nicht die Angst vor dem physischen Alleinsein, sondern vor dem Zusammensein mit sich selbst. Heilung bedeutet, deine eigene beste Freundin zu werden. Du…
- lernst, deine eigene Gesellschaft zu genießen.
- entwickelst ein gesundes inneres Gespräch mit dir selbst.
- begegnest deinen Schattenseiten mit Verständnis statt mit Ablehnung.
- entdeckst, was dich wirklich erfüllt und begeistert.
Diese Transformation ist ein Prozess, kein einmaliges Ereignis. Es wird Tage geben, an denen du zurück in alte Muster fällst, und das ist völlig normal. Heilung verläuft selten linear, sondern eher in Spiralen – du kehrst manchmal zu alten Themen zurück, aber mit neuen Erkenntnissen und Fähigkeiten.
Die Rolle gesunder Beziehungen im Heilungsprozess
Während der Fokus bei der Überwindung von Beziehungssucht zunächst auf dir selbst liegt, spielen gesunde Beziehungen eine wichtige Rolle im Heilungsprozess:
Freundschaften als Übungsfeld
Freundschaften bieten einen sicheren Raum, um neue Beziehungsmuster zu üben. Du…
- kannst Nähe erleben, ohne die Intensität romantischer Beziehungen.
- lernst, Verbindung ohne Verschmelzung zu erfahren.
- übst, dich zu zeigen und Grenzen zu setzen.
- erlebst, dass du geliebt werden kannst, ohne dich zu verbiegen.
Viele Frauen mit Beziehungssucht haben ihre Freundschaften vernachlässigt. Die Wiederherstellung dieser Verbindungen kann ein kraftvoller Teil der Heilung sein.
Gesunde Unterstützungssysteme aufbauen
Ein ausgewogenes Unterstützungssystem zu haben ist entscheidend:
- verschiedene Menschen für verschiedene Bedürfnisse (nicht eine Person für alles)
- eine Mischung aus Freundschaften, familiären Beziehungen und professioneller Unterstützung
- Menschen, die dich in deinem Wachstum unterstützen, nicht in deinen alten Mustern
- Verbindungen, die auf Gegenseitigkeit beruhen
Der Weg zu gesunden romantischen Beziehungen
Mit der Zeit kann eine gesunde romantische Beziehung Teil deines Lebens werden. Eine solche Beziehung ist gekennzeichnet durch:
- Interdependenz statt Co-Abhängigkeit: Ihr seid verbunden, aber nicht verschmolzen. Jeder trägt Verantwortung für sein eigenes Wohlbefinden.
- Authentizität statt Performance: Du musst keine Rolle spielen oder dich verstellen, um geliebt zu werden.
- Kommunikation statt Gedankenlesen: Bedürfnisse und Grenzen werden offen ausgesprochen.
- Wachstum statt Stagnation: Die Beziehung unterstützt die persönliche Entwicklung beider Partner.
- Vertrauen statt Kontrolle: Es gibt Sicherheit ohne übermäßige Überwachung oder Eifersucht.
Eine gesunde Beziehung sollte dich nicht von dir selbst wegführen, sondern dich tiefer zu dir selbst bringen.
Rückschläge verstehen und bewältigen
Der Weg aus der Beziehungssucht ist selten geradlinig. Rückschläge gehören zum Prozess dazu:
Typische Herausforderungen auf dem Weg
- Das „romantische Hochgefühl“ vermissen: Der biochemische „Kick“ der Beziehungssucht kann fehlen und Sehnsucht auslösen.
- Mit Einsamkeit umgehen: Echte Einsamkeit (im Gegensatz zur Suchtangst) kann auftauchen und muss bewältigt werden.
- Alten Triggern begegnen: Bestimmte Situationen oder Personen können alte Muster aktivieren.
- Die Vergangenheit aufarbeiten: Schmerzhafte Erinnerungen und Gefühle können hochkommen.
- Mit gesellschaftlichem Druck umgehen: Das Umfeld versteht vielleicht nicht, warum du eine „Beziehungspause“ machst.
Strategien für Rückfallprävention
- Frühwarnsignale erkennen: Lerne die subtilen Anzeichen kennen, die einem Rückfall vorausgehen (z.B. übermäßiges Fantasieren über Beziehungen, Vernachlässigung von Selbstfürsorge).
- Notfallplan haben: Erstelle einen konkreten Plan für Krisenzeiten (z.B. wen du anrufen kannst, welche Aktivitäten dir helfen).
- Support-System aktivieren: Zögere nicht, Unterstützung zu suchen, wenn du sie brauchst.
- Selbstmitgefühl üben: Behandle dich bei Rückschlägen mit Verständnis statt mit Selbstvorwürfen.
- Aus Rückschlägen lernen: Betrachte jeden Rückschlag als wertvolle Information über deine Trigger und Bedürfnisse.
Den Prozess als Spirale sehen
Stelle dir deinen Entwicklungsweg nicht als gerade Linie vor, sondern als Spirale: Du kommst vielleicht zu ähnlichen Themen zurück, aber jedes Mal mit mehr Bewusstsein, mehr Mitgefühl und mehr Werkzeugen.
Ein „Rückfall“ ist kein komplettes Versagen, sondern ein Teil des Lernprozesses. Du verlierst nicht alles, was du gewonnen hast – du sammelst neue Erkenntnisse.
Die Reise zur Selbstliebe: Ein lebenslanger Prozess
Die Überwindung von Beziehungssucht ist letztlich eine Reise zur Selbstliebe. Diese Reise endet nie wirklich – sie vertieft und erweitert sich im Laufe des Lebens:
Was Selbstliebe NICHT ist
- Selbstliebe ist nicht Egoismus oder Narzissmus
- Selbstliebe ist nicht ständiges Glücklichsein
- Selbstliebe ist nicht die Abwesenheit von Unsicherheiten
- Selbstliebe bedeutet nicht, keine Beziehungen mehr zu brauchen
Was Selbstliebe tatsächlich bedeutet
- Dich selbst als wertvoll zu sehen – mit all deinen Stärken und Schwächen
- Deine Bedürfnisse und Grenzen ernst zu nehmen und für sie einzustehen
- Dir selbst mit dem gleichen Mitgefühl zu begegnen, das du einem geliebten Menschen entgegenbringen würdest
- Die Verantwortung für dein eigenes Wohlbefinden zu übernehmen
- Dir zu erlauben, unvollkommen und verletzlich zu sein
Selbstliebe entwickelt sich in den kleinen täglichen Entscheidungen
- Wenn du „Nein“ sagst, obwohl du Angst hast, abgelehnt zu werden
- Wenn du dir einen Moment der Ruhe gönnst, statt dich abzulenken
- Wenn du dir erlaubst, deine wahren Gefühle zu spüren
- Wenn du Hilfe suchst, statt alles allein bewältigen zu wollen
- Wenn du dich selbst nicht für einen Rückschlag verurteilst
Ein Brief an dein zukünftiges Selbst
Eine kraftvolle Übung ist es, einen Brief an dein zukünftiges Selbst zu schreiben – an die Frau, die du sein wirst, wenn du den Weg der Heilung weiter gehst. Was würdest du ihr sagen? Was würdest du ihr wünschen? Welche Weisheit würdest du mit ihr teilen?
Ebenso wertvoll kann es sein, einen Brief von deinem zukünftigen Selbst an dich heute zu schreiben. Was würde sie dir sagen? Welchen Trost würde sie dir spenden? Welche Perspektive könnte sie dir bieten?
Ressourcen und Hilfsangebote
Im Folgenden liste ich dir einige Ressourcen auf, die dir auf deinem Weg helfen können:
Bücher zum Thema:
- „Die Maschen der Liebe“ von Stefanie Stahl
- „Vom Liebeshunger zur Liebesfähigkeit“ von Ann Elisabeth Auhagen
- „Lieben lernen: Ein Beziehungskurs“ von Eva-Maria Zurhorst
Online-Ressourcen:
- www.coda-deutschland.de – Co-Dependents Anonymous Deutschland
- www.selbsthilfe-aktiv.de – Portal für Selbsthilfegruppen in Deutschland
- www.telefonseelsorge.de – Anonyme Beratung in Krisensituationen
Selbsthilfegruppen:
- CoDA (Co-Dependents Anonymous) – Treffen in vielen größeren Städten
- SLAA (Sex and Love Addicts Anonymous) – für Menschen mit Beziehungs- und Sexsucht
- Lokale Selbsthilfegruppen zu Beziehungsthemen (über lokale Selbsthilfekontaktstellen zu finden)
Apps und digitale Hilfsmittel:
- Selbstreflexions-Apps wie „Reflectly“ oder „Daylio“
- Achtsamkeits-Apps wie „Headspace“ oder „7Mind“
- Tagebuch-Apps für emotionales Tracking
Schlusswort: Deine Reise beginnt jetzt
Wenn du diesen Artikel gelesen hast, hast du bereits einen wichtigen ersten Schritt getan: Du hast den Mut gehabt, dich mit dem Thema Beziehungssucht auseinanderzusetzen. Das allein ist ein Zeichen von Stärke und dem Willen zur Veränderung.
Der Weg aus der Beziehungssucht mag herausfordernd sein, aber er ist auch unglaublich bereichernd. Mit jedem Schritt, den du in Richtung emotionaler Unabhängigkeit gehst, öffnest du dich für ein authentischeres, freieres Leben – und paradoxerweise auch für tiefere und erfüllendere Beziehungen.
Vergiss nicht: Du bist nicht allein auf diesem Weg. Tausende Frauen haben vor dir diesen Prozess durchlaufen und sind gestärkt daraus hervorgegangen. Mit der richtigen Unterstützung, Selbstmitgefühl und Geduld kannst auch du lernen, dich selbst zu lieben und gesunde Beziehungen zu führen, die dein Leben bereichern, statt es zu definieren.
Deine Reise zur Selbstliebe beginnt jetzt – und sie ist die wichtigste Beziehung, die du je haben wirst.