Wenn wir Emotionen vermeiden, um unangenehmen Folgegefühlen zu entkommen
Einleitung
Du kennst es vielleicht: Eine Situation berührt dich tief, aber du merkst, wie du innerlich zurückweichst. Hallo, unterdrückte Gefühle! Du spürst eine Enge im Hals oder ein Ziehen in der Brust, doch statt dich dem Gefühl zuzuwenden, schiebst du es beiseite, lenkst dich ab oder funktionierst einfach weiter.
Dieses Verhalten ist nicht ungewöhnlich, vor allem nicht für Frauen, die früh in ihrem Leben belastende Erfahrungen gemacht haben und gelernt haben, ihre Gefühle zu kontrollieren oder ganz zu unterdrücken.
In diesem Artikel schauen wir uns an, warum das so ist, welche Funktion dieses Vermeidungsverhalten hat, wie es sich im Alltag zeigt und was du tun kannst, um einen heilsameren Umgang mit deinen Emotionen zu entwickeln.
Warum wir Emotionen vermeiden: Ein Schutzmechanismus aus der Vergangenheit
Viele Frauen, die in ihrer Kindheit Verluste, emotionale Vernachlässigung oder Gewalt erfahren haben, entwickeln früh eine Art inneres „Notfallprogramm“. Sie lernen, dass Gefühle wie Angst, Trauer oder Wut nicht willkommen sind oder sogar zu Konsequenzen führen können. Also passen sie sich an. Sie lernen, sich zu kontrollieren, um nicht aufzufallen, um sicher zu sein, um zu überleben.
Emotionale Unterdrückung wird dabei zu einem vertrauten Schutzmechanismus. Er funktioniert, weil er in einem bestimmten Lebensabschnitt wirklich notwendig war. Doch was einst schützend war, wird im Erwachsenenleben oft zur Belastung.
Emotionen – was sie wirklich sind und warum sie wichtig sind
Emotionen als biologisches Navigationssystem
Emotionen sind nichts „Schwaches“. Sie sind ein Teil unseres biologischen Systems – genau wie Hunger oder Müdigkeit. Sie geben uns Informationen darüber, was wir brauchen, was uns guttut und was uns schadet. Angst warnt uns. Wut zeigt unsere Grenzen. Traurigkeit signalisiert Verlust. Freude motiviert uns zur Verbindung.
Wenn Emotionen zur Bedrohung werden
Wenn du als Kind erlebt hast, dass deine Emotionen nicht gesehen, ignoriert oder sogar bestraft wurden, dann kann sich tief in dir die Überzeugung festgesetzt haben: Gefühle sind gefährlich.
Vielleicht hast du gelernt, dass Wut zu Konflikt führt, Traurigkeit abgelehnt wird oder Angst Schwäche bedeutet. Und wenn du diese Gefühle trotzdem gespürt hast, hast du dich vielleicht beschämt oder machtlos gefühlt.
Folgegefühle: Die heimlichen Treiber des Vermeidungsverhaltens
Ein Grund, warum das Zulassen von Gefühlen so schwerfällt, sind die sogenannten Folgegefühle. Das sind Emotionen, die auf ein erstes Gefühl folgen, zum Beispiel Scham über die eigene Traurigkeit, Schuldgefühle wegen der eigenen Wut oder Angst vor Kontrollverlust, wenn Tränen kommen. Diese sekundären Gefühle machen das Erleben der ursprünglichen Emotion noch unangenehmer.
Das Gehirn lernt schnell: „Gefühle fühlen ist gefährlich“. Die Konsequenz: Wir vermeiden das ganze emotionale Paket. Das Problem dabei ist: Unterdrückte Emotionen verschwinden nicht. Sie wirken weiter in uns, oft unbewusst, und beeinflussen unser Denken, Fühlen und Handeln.
Vermeidung als Schutzmechanismus
Warum du gelernt hast, Gefühle zu unterdrücken
Gefühle zu vermeiden war vielleicht in der Kindheit in einer bestimmten Situation sinnvoll. Vielleicht war niemand da, der dich in deiner Traurigkeit gehalten hat. Vielleicht hat niemand deine Wut verstanden – oder du wurdest dafür bestraft. Also hast du gelernt, sie zu schlucken. Zu „funktionieren“. Es war eine Art, dich selbst zu schützen.
Wie emotionale Vermeidung heute aussieht
Emotionale Vermeidung zeigt sich nicht nur im Offensichtlichen. Sie kann sehr subtil sein:
- Ständiges Beschäftigtsein: Du hast immer etwas zu tun. Ruhe macht dich nervös.
- Perfektionismus: Du gibst alles – und fühlst dich trotzdem nie gut genug.
- Kontrolle: Du versuchst, alles im Griff zu haben – vor allem dich selbst.
- Rückzug oder Erstarrung: Wenn es dir zu viel wird, ziehst du dich emotional zurück.
- Körperliche Symptome: Kopfschmerzen, Verspannungen, Magenprobleme – dein Körper übernimmt das, was du emotional nicht ausdrücken konntest.
Wie sich unterdrückte Gefühle im Alltag zeigen
Vielleicht erkennst du dich in einigen dieser Muster wieder: Du…
- funktionierst perfekt im Alltag, bist aber innerlich oft erschöpft.
- vermeidest Konflikte, selbst wenn du darunter leidest.
- hast Schwierigkeiten, eigene Bedürfnisse wahrzunehmen oder zu äußern.
- reagierst stark auf Kritik oder Ablehnung.
- hast kaum Zugang zu deinen Tränen oder Wut, obwohl du innerlich viel spürst.
Diese Strategien haben sich meist unbewusst etabliert und waren früher vielleicht sogar lebenswichtig. Doch heute kosten sie dich Kraft und Lebendigkeit.
Leistungsorientierung als Kompensationsstrategie
Viele Frauen, die ihre Gefühle unterdrücken, kompensieren das durch Überanpassung und Leistung. Sie sind stark, verlässlich, ehrgeizig und hilfsbereit – nach außen hin. Doch innerlich tragen sie oft eine tiefe Erschöpfung und Leere.
Leistung wird zur Ersatzbefriedigung, Anerkennung von außen zum Überlebenselixier. Der Preis: ein zunehmender Selbstverlust. Denn wer permanent stark sein muss, hat keine Erlaubnis, schwach zu sein – oder einfach nur Mensch.
Die Folgen – was unterdrückte Emotionen mit dir machen
Kurzfristiger „Gewinn“ – langfristiger Preis
Ja, Gefühle zu vermeiden funktioniert – kurzfristig. Du kannst weitermachen, arbeiten, dich um andere kümmern. Doch langfristig hat Unterdrückung einen Preis:
- Emotionale Erschöpfung
- Innere Leere oder Taubheit
- Beziehungsprobleme (z. B. emotionale Distanz oder das Gefühl, „nicht ganz da“ zu sein)
- Überforderungsgefühle bei kleinsten Triggern
- Chronische Selbstzweifel
Schauen wir doch einfach noch einmal genauer auf die Folgen.
Körperliche Folgen
Unterdrückte Emotionen zeigen sich oft im Körper. Das autonome Nervensystem reagiert auf inneren Stress, auch wenn dieser nicht bewusst wahrgenommen wird. Häufige körperliche Symptome sind:
- Spannungskopfschmerzen
- Magen-Darm-Beschwerden
- chronische Verspannungen (besonders im Nacken- und Schulterbereich)
- Erschöpfung trotz ausreichendem Schlaf
- unerklärliche Schmerzen
Diese Beschwerden können Hinweise darauf sein, dass emotionaler Stress unbewusst wirkt. Der Körper wird so zur letzten Stimme, die uns aufmerksam machen will: „Da ist etwas, das gefühlt werden will.“
Typische Denkfallen und Glaubenssätze
Viele Frauen, die ihre Gefühle unterdrücken, tragen tief verankerte Glaubenssätze in sich:
- „Ich darf nicht schwach sein.“
- „Gefühle machen mich verletzlich.“
- „Niemand will meine Traurigkeit sehen.“
- „Wenn ich wütend bin, verliere ich die Kontrolle.“
Solche inneren Überzeugungen entstehen meist aus Erfahrungen in der Kindheit und prägen unser heutiges Verhalten. Sie sind nicht „die Wahrheit“, sondern Schutzkonzepte von damals. Heute dürfen sie überprüft und neu bewertet werden.
Warum du vermeidest – und welche Gefühle du wirklich fürchtest
Also noch einmal, weil es so wichtig ist: Es geht nicht um die erste Emotion.
Viele Frauen sagen: „Ich will nicht traurig sein.“
Aber oft geht es nicht um die erste Emotion – sondern um das, was danach kommt:
- Die Angst, „überflutet“ zu werden.
- Die Scham, verletzlich zu sein.
- Das Gefühl von Ohnmacht oder Hilflosigkeit.
- Das innere Kind, das gelernt hat: Niemand hilft dir. Also sei still.
Die Folgegefühle sind das eigentliche Problem.
Es ist nicht die Trauer selbst, die dich lähmt – sondern die Erinnerung daran, wie es war, damit allein zu sein. Es ist nicht die Wut, die du fürchtest – sondern das Gefühl von Schuld oder Ablehnung, das darauf folgt.
Was du tun kannst – Wege zurück zu dir
- Emotionen anerkennen, ohne sie zu analysieren
Du musst nicht sofort verstehen, warum du so fühlst. Es reicht, zu bemerken: Da ist gerade etwas.
Sag dir innerlich: „Ich darf fühlen, was ich fühle.“
- Den Körper als Anker nutzen
Gefühle zeigen sich im Körper – als Enge, Druck, Wärme, Kälte, Kribbeln. Du kannst lernen, deinen Körper wieder als sicheren Ort zu erleben.
- Setz dich bequem hin.
- Richte deine Aufmerksamkeit auf deinen Atem.
- Spür, wo in deinem Körper gerade etwas „los“ ist – ohne es verändern zu wollen.
- Sanfte Konfrontation statt Vermeidung
Wenn du spürst, dass ein Gefühl kommt, sag dir:
„Ich bin erwachsen. Ich bin nicht mehr allein. Ich darf jetzt fühlen.“
- Schreibe regelmäßig auf, was du fühlst
Ein Gefühl aufzuschreiben hilft, es greifbarer zu machen. Du kannst z. B. ein „Emotionsjournal“ führen – nicht um zu analysieren, sondern um zu beobachten.
- Suche Verbindung – nicht Lösung
Es geht nicht darum, dich selbst zu „reparieren“. Es geht um Verbindung: zu dir, zu anderen, zu deinem inneren Erleben. Wenn du magst, hol dir Begleitung – z. B. durch Coaching oder therapeutische Unterstützung.
Du bist nicht falsch – du bist geschützt
Klingt komisch, oder? Fakt ist dies: Dein Körper, dein System, deine Muster – sie alle haben dir geholfen zu überleben. Die Tatsache, dass du jetzt liest, nachdenkst, fühlst – das zeigt: Du bist bereit, dich weiterzuentwickeln.
Es wird nicht immer angenehm sein. Aber es lohnt sich. Denn du lernst, mit dir in Kontakt zu sein – und nicht länger vor dir selbst davonzulaufen.
Praktische Übungen zur Emotionsregulation
Ein gesunder Umgang mit Gefühlen lässt sich üben. Hier ein paar alltagstaugliche Impulse:
- Atembeobachtung: Richte deine Aufmerksamkeit für ein paar Minuten auf deinen Atem. Spüre, wie die Luft in deinen Körper ein- und ausströmt. Das beruhigt das Nervensystem.
- Gefühls-Check-in: Frage dich mehrmals täglich: „Was fühle ich gerade?“ Benenne das Gefühl ohne Bewertung.
- Schreibübung: Nimm dir 10 Minuten und schreibe frei über ein aktuelles Gefühl. Lass den Stift einfach fließen.
- Gefühle visualisieren: Stelle dir deine Gefühle als Farben, Wellen oder Wetterphänomene vor. Diese Technik hilft, Abstand zu gewinnen und gleichzeitig Verbundenheit zu spüren.
- Sichere Orte im Inneren schaffen: Erinnere dich an einen Ort, an dem du dich sicher gefühlt hast – real oder imaginär. Nutze dieses Bild, um dich innerlich zu stabilisieren, wenn starke Gefühle aufkommen.
Eine kleine Geschichte: Carolins Wendepunkt
Carolin ist 46 Jahre alt, Mutter zweier Teenager und leitet die Personalabteilung eines mittelständischen Unternehmens. Nach außen wirkt sie souverän, organisiert, freundlich. Doch seit Monaten spürt sie eine zunehmende Leere in sich. Sie schläft schlecht, hat häufig Migräne und meidet Gespräche, die über Alltägliches hinausgehen.
Als ihre beste Freundin sie eines Abends fragt, wie es ihr wirklich geht, brechen plötzlich Tränen aus ihr heraus – unerwartet und heftig. Es ist das erste Mal seit Jahren, dass sie weint. Carolin erschrickt über ihre eigene Reaktion. Doch im Laufe des Gesprächs merkt sie: Da ist so viel angestaut. Traurigkeit über den frühen Tod ihres Vaters, Wut über alte Ungerechtigkeiten in ihrer Ehe, das Gefühl, nie „gut genug“ gewesen zu sein.
Nach diesem Abend beginnt sie, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Sie sucht eine Therapeutin auf und beginnt, regelmäßig Tagebuch zu schreiben. Es fällt ihr nicht leicht – oft fühlt sie sich überfordert. Aber mit der Zeit merkt sie: Es tut gut, sich selbst Raum zu geben. Ihre Kopfschmerzen werden seltener. Sie wird weicher – mit sich selbst und anderen. Und das, sagt sie heute, fühlt sich endlich lebendig an.
Erste Schritte in Richtung Gefühl
Gefühle wieder zuzulassen, ist ein Prozess. Es braucht Sicherheit, Zeit und Geduld. Hier ein paar Impulse:
- Selbstbeobachtung: Nimm wahr, wann du Gefühle wegschiebst oder dich ablenkst.
- Benenne, was du fühlst: Auch wenn du nur vage spürst – gib dem Kind einen Namen.
- Erlaube dir kurze Momente der Ehrlichkeit: Vielleicht schreibst du dir abends auf, was dich berührt hat.
- Achte auf deinen Körper: Körperliche Reaktionen sind oft der erste Hinweis auf verdrängte Gefühle.
- Suche sichere Räume: Gespräche mit vertrauten Menschen oder psychotherapeutische Begleitung können helfen.
Fazit
Emotionen zu unterdrücken war einst deine Rettung. Doch heute darfst du neue Wege wählen. Wege, die mehr Lebendigkeit, mehr Nähe und mehr Freiheit erlauben.
Das Unterdrücken von Gefühlen ist kein Zeichen von Schwäche oder Unreife. Es ist eine ehemals sinnvolle Strategie, die irgendwann ihre Wirkung verliert. Wenn du beginnst, dich deinen Gefühlen zuzuwenden, öffnest du dich für mehr Lebendigkeit, Klarheit und Selbstmitgefühl. Und du darfst das in deinem Tempo tun, Schritt für Schritt. Du musst nicht alles auf einmal ändern. Es reicht, heute einen kleinen Schritt zu machen.
Vielleicht war das Lesen dieses Artikels genau dieser Schritt.
Message to yourself
Du darfst fühlen. Du darfst Raum einnehmen. Du darfst dich selbst ernst nehmen – mit all dem, was du erlebt hast und mit allem, was du heute spürst. Veränderung beginnt oft leise, mit einem kurzen Innehalten, einem ersten Wort, einem bewussten Atemzug. Wenn du bereit bist, hinzuschauen, wirst du merken: Du bist stärker, als du dachtest – nicht trotz deiner Gefühle, sondern gerade wegen ihnen.
FAQs
1. Warum fällt es mir so schwer, Gefühle zuzulassen?
Weil dein System dich schützen will. Wenn du früh gelernt hast, dass bestimmte Gefühle gefährlich oder unerwünscht sind, hat dein Nervensystem gelernt, diese zu vermeiden.
2. Können unterdrückte Emotionen wirklich körperliche Beschwerden verursachen?
Ja. Der Körper reagiert auf emotionalen Stress mit Spannungen, Schmerzen und anderen Symptomen – besonders, wenn Gefühle über lange Zeit nicht ausgedrückt werden.
3. Was, wenn ich nicht weiß, was ich fühle?
Das ist normal. Beginne mit Körperwahrnehmung: Wo spürst du etwas? Enge, Hitze, Kälte? Das kann dir helfen, einen Zugang zu deinen Emotionen zu finden.
4. Muss ich meine Vergangenheit aufarbeiten, um heute besser mit meinen Gefühlen umzugehen?
Nicht zwangsläufig. Es kann helfen, Muster zu erkennen. Aber entscheidend ist, wie du im Hier und Jetzt lernst, mit dir und deinen Gefühlen umzugehen.
5. Wie finde ich Unterstützung, wenn ich nicht allein weiterkomme?
Du kannst mit einer vertrauten Person sprechen oder professionelle Hilfe suchen – z. B. durch Therapeut*innen oder spezialisierte Beratungsstellen. Der erste Schritt ist oft schon ein großer Wandel.