Burnout – 8 Fragen an Julia Cremasco
„Halten Sie es für gerechtfertigt, dass Burnout innerhalb der ICD-10 nicht als eigenständige, sondern nur als Zusatzdiagnose aufgeführt wird?“
Julia Cremasco: Meiner Meinung ist es sinnvoll, Burnout nicht als Krankheit anzusehen – sondern als Zustand, der zu einer ernsten psychischen Krankheit führen kann. Wenn wir einen Blick in das jüngst veröffentlichte DSM V werfen, so geht der Trend dahin, immer mehr Zustände als Krankheiten zu klassifizieren.
Die Grenzen werden immer enger gesetzt, so sind z. B. mehr als 2 Wochen Trauer nach dem DSM V (Fünfte Auflage des „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“) bereits krankhaft, dabei wissen wir, dass die Trauer beim Verlust eines lieben Menschen auch Monate andauern kann und vollkommen natürlich ist. Diagnosen können meiner Meinung nach äußerst stigmatisierend wirken, Stigmata wiederum können sich negativ auf das Commitment des Patienten auswirken.
Ich bin der Ansicht, dass wir genügend Diagnoseschlüssel haben. Viel wichtiger ist es, den Leidensdruck exakt zu lokalisieren und zu fokussieren sowie einen individuell für den Patienten passenden Weg aus dem Zustand heraus zu finden und schließlich in aller Konsequenz einerseits und Achtsamkeit andererseits zu gehen. Was nützt es dem Patienten wirklich, wenn er weiß, wie sein Leid benannt wird? Das Entscheidende ist doch, den Leidenszustand zu verlassen hin zu etwas, das die Lebensqualität – wieder – steigert.
„Worin sehen Sie Mängel oder Bedarf in der Burnout-Forschung?“
Julia Cremasco: Das Thema ist noch zu jung und auch zu umfassend, als dass ich echte Mängel im Erforschen des Phänomens Burnout benennen kann. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass der Praxisbezug immer im Blick behalten wird, denn schließlich sollte das oberste Ziel lauten, effektive Wege der Linderung der Symptomatik zu finden.
Burnout ist ein Bereich, der unterschiedliche Themen gleichzeitig berührt – medizinische, soziologische und wirtschaftliche Aspekte, möglicherweise auch philosophische Aspekte etc. Hier ist es wichtig, dass die Forschung sich der ganzheitlichen, fachgebietsübergreifenden und auch grenzüberschreitenden Arbeit immer mehr öffnet. Burnout ist ein weltweites, gesellschaftliches Problem der Industrieländer.
Im Rahmen eines großen Kongresses im Juni dieses Jahres in Bad Kissingen (Bewusstseinskongress, Heiligenfeld Akademie) wurden Stimmen aus den Reihen der Forschung laut, die sich dahingehend äußerten, dass der Burnout-Zenit noch nicht erreicht ist und eine Veränderung der Wirtschaftsordnung unumgänglich ist. Ist diese Rigorosität tatsächlich angebracht? Das ist offen.
Was aber im Hinblick auf die Forschung wichtig ist, ist die Tatsache, dass das Entstehen eines Burnouts immer multifaktoriell ist. Die Forschung sollte deshalb nicht verfrüht nur einen Ansatz en detail verfolgen, sondern breit aufgestellt bleiben.
„Wie konnte Ihrer Ansicht nach der Trend zum Burnout entstehen? Ist die arbeitende Bevölkerung heutzutage tatsächlich höheren Belastungen ausgesetzt als noch vor 60 oder 30 Jahren?“
Julia Cremasco: Aus meiner Sicht sind die Belastungen nicht höher – sondern anders. Und dieses „Andere“ hat das Entstehen von Burnout vorangetrieben. Schauen wir auf die Bevölkerung in den 1950er und 1960er Jahren, dann erhalten wir das Bild einer stark körperlich arbeitenden Bevölkerung.
Europa und Deutschland war vom Wiederaufbau geprägt nach dem Zweiten Weltkrieg, viele Annehmlichkeiten, die heute selbstverständlich sind, gab es zu der Zeit noch nicht. Die Arbeitstage waren lang und ausgefüllt, Samstagsarbeit war eher Standard als Ausnahme. Auch im Haushalt gab es vieles, was von Hand zu erledigen war. Zeitdruck, wie wir ihn heute kennen, spielte aber nur eine untergeordnete Rolle.
Auch der Werdegang eines Menschen war in dieser Zeit in der Regel recht früh vorgezeichnet, es kam selten vor, dass ein Kind aus einfachen Verhältnissen die Schulbildung genießen konnte, die es ihm ermöglichte, einen akademischen Werdegang einzuschlagen. Man blieb quasi seinem Stand treu. Die Strukturen waren übersichtlich und sehr klar.
Heute dagegen genießen wir eine unfassbare Freiheit in vielen Lebensbereichen. Uns stehen in der Ausbildung so gut wie alle Türen offen (vorausgesetzt, der Notendurchschnitt stimmt), auch Kinder aus benachteiligten Familien haben die Möglichkeit zur Hochschule gehen. Diese immense Freiheit in Verbindung mit der stetigen steigenden Informationsflut und permanenten Erreichbarkeit durch Email und Mobilfunk wirkt belastend. Klarheit ist selten gegeben, beinahe minütlich stehen neue Möglichkeiten und Wege auch im Kleinen offen.
Arbeitsalltag und Freizeit verwachsen immer mehr, der Arbeitnehmer checkt auch am Wochenende seine dienstlichen Emails, das Firmenhandy ist eingeschaltet. Der Leistungsdruck wächst, die Geschwindigkeit in der Arbeitswelt steigt – bedingt durch immer schnellere maschinelle Prozesse. Der Mensch ist in seiner Leistungsfähigkeit dagegen auf natürliche Weise begrenzt. Diese Faktoren können zu Dauerstress beim einzelnen führen aufgrund der Persönlichkeitsstruktur und der Disposition.
Ich betone immer gern, dass der meiste Stress im Gehirn entsteht. Die psychische Belastung steigt, was schließlich im Burnout münden kann.
„Sind bestimmte Zielgruppen (Alter, Geschlecht, bestimmte Berufsgruppen…) besonders anfällig für Stress und Burnout?“
Julia Cremasco: Meiner Meinung nach sind vom Burnout alle Altersgruppen, alle Branchen und Berufe sowie alle sozialen Schichten betroffen. Und ich möchte einmal ganz deutlich betonen, dass auch die „Familienmanagerin“ (Hausfrau und Mutter) betroffen sein kann. Burnout ist kein Phänomen, das ausschließlich die Managementebene eines Konzerns betrifft.
Tatsächlich ist es so, dass in den lehrenden, sozialen und helfenden Berufen besonders häufig Burnout auftritt
– entweder weil die Personengruppen eher auf die Überlastung achten und es deshalb wohlmöglich schneller zu einer entsprechenden Diagnose kommt – während andere Personengruppen eher aufgrund einer evtl. perfektionistischen Veranlagung dazu neigen, die Symptome herunterzuspielen
– oder weil in diesen Gruppen auffallend oft auch das sogenannte „Helfersyndrom“ zu verzeichnen ist, welches u. a. dadurch gekennzeichnet ist, dass der Betroffene permanent helfen will, sich praktisch über seine helfende Leistung definiert und die eigenen Bedürfnisse – auch nach Erholung – zurückstellt. Auch das Alter kann Einfluss auf die „Burnout-Anfälligkeit“ haben. Dazu im Folgenden mehr.
„Worin sehen Sie die Hauptursachen für ein Burnout? Überwiegen arbeitsplatzbedingte oder private Faktoren?“
Julia Cremasco: Aus meiner Sicht führt die Kombination verschiedener Faktoren zum Burnout. Persönlichkeit einerseits, Umfeld andererseits haben entscheidenden Einfluss auf das Entstehen einer umfassenden Erschöpfung. Ich selbst ziehe mittlerweile übrigens den Begriff der „(emotionalen) Erschöpfung“ dem des Begriffs „Burnout“ vor. „Burnout“ mutiert in der Bevölkerung von einem Modewort zu einem Unwort.
„Stress entsteht im Gehirn“ – dieser Umstand ist beim Entstehen von Burnout zentral. Die betroffene Person leidet unter der wahrgenommenen Diskrepanz zwischen erdachtem Ideal (eigene Erwartungshaltung) und der Wirklichkeit, welche ja auch wiederum durch eine sehr eigene und persönliche Wahrnehmung entsteht. Der eigene Wunsch nach wie auch immer gestalteter Perfektion spielt eine beachtliche Rolle.
Das Umfeld, der Arbeitsplatz, tut sein Übriges dazu: unklare und/oder permanent wechselnde Strukturen und Zuständigkeiten, eine Atmosphäre der Nicht-Wertschätzung und Nicht-Achtung, Leistungsdruck, fehlende Zielvereinbarungen, permanente Fremdbestimmung mit wenig Möglichkeit zum eigenverantwortlichen Arbeiten lassen den Druck steigen.
„Welche Präventionsmaßnahmen innerhalb von Unternehmen haben sich Ihrer Erfahrung nach als am wirkungsvollsten herausgestellt?“
Julia Cremasco: Aus meiner Sicht ist Prävention am nachhaltigsten, wenn sowohl der Einzelne motiviert und gewillt ist, an sich zu arbeiten und für seine persönliche Gesundheit auf individuellem Wege zu sorgen – möglicherweise unterstützt durch entsprechende Angebote seitens des Arbeitgebers (ich denke hier z.B. an vom Arbeitgeber (teil-) finanzierte Coachingstunden), als auch wenn das Unternehmen seine Rolle und Aufgabe in der Prävention erkennt und diese Verantwortung übernimmt.
Hier gilt es evtl., instrumentelle und organisatorische Maßnahmen zu ergreifen, um die Arbeitsplatzsituation zu optimieren auch im Sinne eines Wohlfühlens im Unternehmen. Darüber hinaus ist es unumgänglich, dass die Geschäftsleitung sich ihrer Vorbildfunktion hier im Besonderen bewusst ist. Burnout-Prävention ist Chefsache. Die besten Maßnahmen sind nutzlos, wenn in der Managementetage eine wenig wertschätzende und wenig gesundheitsbewusste Haltung gelebt wird.
Die beschriebene Kombination aus Individualmaßnahmen und unternehmensübergreifenden Maßnahmen kann in Verbindung mit einer geduldigen Strategie der kleinen Schritte kontinuierlich und nachhaltig Veränderungsprozesse anstoßen, welche dafür sorgen, dass Burnout im Unternehmen an Bedeutung verliert.
„Müssen Präventionsmaßnahmen auf jedes Unternehmen zugeschnitten sein, oder können Sie bestimmte Maßnahmen nennen, die für jede Art von Unternehmen sinnvoll wären?“
Julia Cremasco: Unbedingt!Ich lehne es ab, Standard-Programme aus der Schublade zu ziehen. Es muss meines Erachtens vielmehr immer die individuelle Situation vor Ort berücksichtigt werden. Nur wenn alle Prozesse des Unternehmens und die Arbeitsteams als solche Beachtung finden, kann nachhaltig die Arbeitsbewältigungsfähigkeit des Einzelnen und damit die Gesundheit des Unternehmens als Ganzes aufrecht erhalten werden. Dies sollte immer das Ziel eines Unternehmens sein.
Sowohl das Aktivwerden des Individuums als auch das der Arbeitsplatzgemeinschaft ist gefragt. Der Einzelne muss über individuelle Maßnahmen seine Gesundheit stabilisieren und die berufliche Qualifikation optimieren. Das Unternehmen als Ganzes trägt Sorge für die Arbeitsplatzgemeinschaft und die Arbeitsorganisation.
Sehr wichtige Aspekte im Rahmen der Arbeitsplatzgemeinschaft sind Themen wie „Verhaltenskodex“, „Wertschätzung“ und auch „Achtsamkeit“. Hier gilt es wie gesagt, individuell zu schauen, welcher Bedarf tatsächlich vor Ort vorhanden ist. Das Rad muss nicht neu erfunden werden. Oberstes Gebot beim betrieblichen Gesundheitsmanagement ist und bleibt die Motivation der Geschäftsleitung und des Managements. Maßnahmen, die nur in einzelnen Abteilungen umgesetzt werden oder von einzelnen Mitarbeitern
„Worin sehen Sie die Motivation von Unternehmen, gesundheitsfördernde Maßnahmen umzusetzen?“
Julia Cremasco: Meines Erachtens sollten Unternehmen hochgradig motiviert sein, gesundheitsfördernde Maßnahmen einzuführen, um langfristig eine nachhaltig gesundheitsfördernde Atmosphäre zu schaffen.
Selbstverständlich kosten derartige Maßnahmen Zeit und Geld, dennoch ist diese Investition rein betriebswirtschaftlich betrachtet günstig. Denn die Kosten für einen krankgeschriebenen Mitarbeiter sind um ein Vielfaches höher. Fällt ein Mitarbeiter aufgrund von Krankheit für 6-8 Wochen aus (dies ist der durchschnittliche Ausfallzeitraum bei Burnout, es gibt auch Fälle, die an die 12 Monate krankgeschrieben sind), so leidet das Unternehmen nicht nur an der fehlenden reinen Arbeitskraft.
Vielmehr geht wohlmöglich für diese Zeit Know-How und Erfahrung verloren, die so genannte „sticky information“, sprich Informationen, die nicht dokumentiert sind. Eine Vielzahl an Studien belegt mittlerweile, dass die betriebliche Gesundheitsförderung nicht nur positive Gesundheitsaspekte bewirkt, sondern dass die Maßnahmen auch positive betriebswirtschaftliche Effekte nach sich ziehen.
Last but not least sollte man die demografische Entwicklung nicht aus den Augen verlieren, wenn man sich mit der Thematik auseinander setzt. Je älter der Mitarbeiter wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Vulnerabilität im Allgemeinen und die Stressempfindlichkeit im Besonderen steigt. Geschwindigkeit ist etwas, mit dem der alternde Mensch aufgrund des sinkenden Reaktionsvermögens im Allgemeinen seine Probleme hat.
Steigender Leistungsdruck, immer stärkere Informationsflut und die Forderung nach schnellerem Arbeitsoutput sind also Themen die wohlmöglich den älteren Mitarbeiter stärker betreffen als den jüngeren. Und da die Bevölkerung stark altert, ist es insbesondere für ein Unternehmen wichtig, sich dem betrieblichen Gesundheitsmanagement konsequent zuzuwenden.